Kontaktschuld – Funktion und Wirkung

Kontaktschuld ist eine Technik zur Diskreditierung und medialen Manipulation. Bei dieser Technik wird eine Person (oder Gruppe) diskreditiert, indem eine Verbindung zu einer anderen stigmatisierten Gruppe oder Person angeprangert wird. Der Kontaktschuldvorwurf funktioniert durch die gedankliche Annahme eines Außenstehenden, die mit der Kontaktschuld belegte Person würde zu der stigmatisierten Gruppe “dazu gehören” oder zumindest in einer wohlwollenden Partnerschaft stehen. Es handelt sich dabei um eine sog. Assoziationstäuschung.

Medienforscher Michael Meyen skizziert das Prinzip der Kontaktschuld in einem lesenswerten Interview wie folgt:

“Im ersten Schritt identifiziere ich etwas als Gegner. Eine Person, eine Meinung, eine Partei, eine Ideologie. Und im zweiten Schritt ordne ich eine Person diesem gegnerischen Lager zu, mit dem Ziel, dass diese Person, egal was sie sagt, delegitimiert ist.”

Diese Technik ist das Mittel der Wahl, wenn gegen die Person selbst (z.B. durch Bewertung ihrer Aussagen oder Handlungen) kein glaubwürdiges oder beweisbares Stigma konstruiert werden kann. Der Kontaktschuldvorwurf ist insofern auch eine Indirektion, da das Stigma nicht direkt die eigentliche Zielperson belegt, sondern nur indirekt andere Personen oder Gruppen mit denen sie aber in Verbindung gebracht wird.

Rechtlich schwer verfolgbar

Durch diese Indirektion ist eine Diffamierung mittels Kontaktschuldvorwurf auch rechtlich schwer angreifbar. Während eine falsche diffamierende Behauptung z.B. als üble Nachrede (§ 186 StGB) geahndet werden kann, ergibt sich beim Kontaktschuldvorwurf das Problem, dass lediglich die Verbindung zu einer stigmatisierten Gruppe behauptet wird. Wenn sich eine Diffamierung ergibt, dann nur gegenüber der stigmatisierten Gruppe, bei der in aller Regel aber Quellen existieren, auf welche die Beweislast abgewälzt werden kann. Zum Vergleich:

  • “Max ist ein drogensüchtiger Dieb”: Wer diese Behauptung öffentlich aufstellt, läuft Gefahr aufgrund übler Nachrede (§ 186 StGB) oder gar Verleumdung (§ 187 StGB) verurteilt zu werden, wenn nicht zu beweisen ist, dass Max ein drogensüchtiger Dieb ist (schwieriger Beweis).
  • “Max spielt am Wochenende regelmäßig mit Dieter Tennis, der vor dem Landgericht wegen Drogendelikten und Diebstahl verurteilt wurde”: Es wird nur behauptet, dass Max mit Dieter regelmäßig Tennis spielt (trivialer Beweis) und dass letzterer entsprechend vorbestraft ist (gesicherter Beweis).

Der rechtliche Aspekt ist womöglich einer der Gründe, warum sich Diffamierung mittels Kontaktschuldvorwürfen in der Berichterstattung der letzten Jahre steigener Beliebtheit erfreut.

Die Welt ist klein

Professor Stanley Milgram, der heute vor allem für das sog. Milgram Experiment bekannt ist, untermauerte durch die Ergebnisse eines seiner weniger bekannten Experimente im Jahr 1967 die These, dass jeder Mensch jeden anderen Menschen über durchschnittlich 6 Ecken kennt. Heute zeigen Auswertungen sozialer Netzwerke, dass dieses “Kleine-Welt-Phänomen” dort in ähnlicher Dimension auftritt.

Bewertet wurden dabei nur direkte persönliche Kontakte, nicht jedoch abstraktere Gemeinsamkeiten wie z.B. Mitgliedschaften in gleichen Parteien oder Sportvereinen. Eine Verbindung kann auch vollständig abstrakter Natur sein: Dann genügt als verbindendes Element beispielsweise eine ähnliche Meinung zu einem Thema oder eine gleichartige Äußerung. Würde man solche Konstrukte mit einbeziehen, muss davon ausgegangen werden, dass beliebige Personen durch überschaubare Wege “in Verbindung gebracht” werden können. Kontaktschuldvorwürfe lassen sich bis zu einem gewissen Grad also gegen beliebige Personen konstruieren.

Warnsignale

Analyse und Darstellung von Kontakten und Netzwerken ist nicht per se manipulativ. Dies macht die Unterscheidung von einem Kontaktschuldvorwurf schwierig. Es gibt allerdings Warnsignale:

  • Stellvertretend für Gruppen werden Minoritäten betrachtet (z.B. einzelne Protagonisten)
  • Bezug auf unklare, undefinierte oder nebulöse Stigmata (z.B. Querdenker, Corona-Leugner, etc.)
  • Nutzung oberflächlicher oder abstrakter Gemeinsamkeiten
  • Es wird nicht in gleichem Maße eine These und Antithese gewürdigt
  • Kontakte als Hilfsmittel (sekundär) um das Stigma einsetzen zu können (primär)
  • Auch andere mediale Techniken zur Manipulation werden eingesetzt

Im Wandel der Zeit

Als historisches Beispiel für Kontaktschuldvorwürfe nennt Meyen u.a. die McCarthy-Ära Anfang der 1950er Jahre in Amerika. Medien und Gesellschaft waren damals zu Beginn des kalten Krieges durch Verschwörungstheorien angeblicher kommunistischer Unterwanderung des Staates geprägt. Bereits unter Präsident Truman waren mit der Executive Order 9835 rechtsstaatliche Grundsätze zu Gunsten einer Art “anti-kommunistischen Inquisition” ausgehöhlt worden, die McCarthy in seinem Untersuchungsausschuss auf die Spitze trieb.

Senator Joseph McCarthy (Quelle)

Mit dem Vorwurf Kommunist zu sein oder Sympathie für den Kommunismus zu hegen, wurden berufliche Existenzen zerstört aber auch politische Gegner ins Visier genommen. Zum Höhepunkt wurde sogar Präsident Eisenhower verdächtigt ein “verkappter Kommunist” zu sein. Professor Schrecker schreibt in “Many are the crimes: McCarthyism in America”, dass in dieser Zeit tausende Menschen aus ihren Jobs gekündigt oder sogar inhaftiert wurden. Es ist hingegen kein einziger Fall bekannt, in dem tatsächlich ein sowietischer Spion aufgrund der politisch/medialen Hexenjagden enttarnt worden wäre.

Heute lauern hinter Kritik an politischen Entscheidungen und medialen Narrativen seltener Kommunisten, dafür aber Querdenker und Nazis. Unverändert geblieben ist hingegen die Technik des Kontaktschuldvorwurfs.

Beispiel aus den Medien

Als Anschauungsobjekt dient der Bericht einer regionalen Zeitung über eine Friedensdemonstration in Freiburg. Nach Polizeiangaben nahmen an dieser Demonstration ca. 850 Personen teil. Die Zählung des Veranstalters ergab 920 Teilnehmer. Laut dem Artikel “bestimmten Peace-Zeichen und Fahnen mit Friedenstauben das Bild”, jedoch sei auch die Fahne der “Freien Sachsen” geschwenkt worden.

Mit den Fotos des Aufzugs ist dies belegbar: genau eine Person mit einer solchen Fahne nahm am Aufzug teil – etwa auf Höhe vom Ende des vorderen Drittels. Auffällig im Sinne eines Kontaktschuldvorwurfs ist die Wahl der Überschrift des Abschnitts der beide Aussagen enthält: “Fahne rechtsextremer Kleinstpartei wurde geschwenkt”:

Quelle: Badische Zeitung

Es ist der einzige Abschnitt mit einer Überschrift und prägt daher das Erscheinungsbild des Artikels. Als Überschrift genutzt, entstellt die Aussage geschickt die Relationen: Ein Leser müßte sie so verstehen, dass die Fahne für die Demonstration charakteristisch war oder eine herausragende Stellung hatte. Dies war aber nicht der Fall, was der Fließtext dann auch korrekt beschreibt. Es stellt sich die Frage: Warum wählt man eine solche offenkundig unpassende Überschrift? Mit dem Verständnis als Kontaktschuldvorwurf klärt sich diese Frage. Das Stigma ist in diesem Fall die “Nazi-Ecke” mit welchem die politische Forderung der Teilnehmer in Verbindung gebracht wird.

Für die Printausgabe der Zeitung wurde die Überschrift des Abschnitts inzwischen gestrichen.

Der gesellschaftliche Kollateralschaden

Als mediale Waffe zur Diskreditierung politischer Forderungen missbraucht, führt der Kontaktschuldvorwurf unweigerlich zu gesellschaftlichem Kollateralschaden. In obigem Beispiel wird nicht nur ein einzelner “Fahnenträger” angegriffen, sondern hunderte von Menschen mit ihrer politischen Forderung nach Frieden. Der Kontaktschuldvorwurf trifft sie alle gleichermaßen. Echter Extremismus wird dabei verharmlost, wenn die Begriffe zum politischen Werkzeug degenerieren, das gegen Jedermann eingesetzt wird.

Kontaktschuldvorwürfe ersticken den gesellschaftlichen und politischen Diskurs. Im Kontext von Demonstrationen sind sie ein Mittel zur Zersetzung von Protest. Sie führen dazu, dass Meinungen gar nicht erst geäußert oder ausgetauscht werden – aus Angst mittels Kontaktschuldvorwürfen stigmatisiert zu werden. Die Technik soll Angst erzeugen, Kommunikation verhindern und die betreffenden Personengruppen isolieren.

Ein Beispiel dafür beschreibt Medienforscher Meyen im Interview: Auf einer Veranstaltung 2018 in Kassel sollte über Meinungsvielfalt und Pluralismus in der deutschen Öffentlichkeit debattiert werden. Dazu waren Vertreter etablierter als auch freier Medien eingeladen. Bis auf zwei Personen sagten jedoch alle Vertreter der etablierten Medien ab:

“Begründet wurde das mit dem Argument Kontaktschuld: Wenn Sie an einer Veranstaltung teilnehmen, wo auch Albrecht Müller, Maren Müller oder Jens Wernicke auftreten, dann sind Sie im öffentlichen Diskurs nicht mehr satisfaktionsfähig. Das Gespräch zwischen Medienkritikern und etablierten Journalisten kam so gar nicht erst zustande, weil die eine Seite aus Kontaktschuld-Angst nicht da war.”

Weiterführende Literatur

Die Technik des Kontaktschuldvorwurfs und weitere Manipulationstechniken beschreibt der Mitgründer der “Agora Initiative” Johannes Menath im Buch “Moderne Propaganda – 80 Methoden der Meinungslenkung“.