Nicht einen Zentimeter nach Osten

Am 9. Februar 1990 sprach James Baker mit Präsident Mikhail Gorbatschow im Kreml zum Thema der Wiedervereinigung Deutschlands. Das Protokoll dieses Gesprächs ist inzwischen von den USA entklassifiziert und frei zugänglich [Mirror] – wenn auch in Teilen stark geschwärzt. Bekannt wurde das Gespräch wegen einer Aussage von James Baker, dem damaligen Außenminister der USA, die NATO würde ihre Kontrolle nicht nach Osten erweitern, sofern das wiedervereinigte Deutschland der NATO beitrete.

Gesprächsprotokoll zwischen Baker und Gorbatschow

Dies ist der strittige Abschnitt mit der Aussage Bakers:

James Baker zur Rolle der NATO (Quelle)

Baker erklärt darin, für die USA sei ein neutrales Deutschland nicht wünschenswert. Ein neutrales Deutschland sei nicht notwendigerweise militärisch untätig. Es könne beispielsweise zur Auffassung gelangen, dass es eigene unabhängige nukleare Fähigkeiten benötige, anstatt [als Teil der NATO] lediglich an der nuklearen Abschreckung der USA beteiligt zu sein. Die NATO sei der Mechanismus der Militärpräsenz der USA in Europa. Falls man sie auflöse, gäbe es auch keine Militärpräsenz der USA in Europa mehr. Man verstünde, dass Sicherheitsgarantien für die Länder im Osten notwendig wären, so Baker weiter. Hätte die USA eine Militärpräsenz in einem wiedervereinigten Deutschland, welches der NATO angehöre, dann gäbe es keine Erweiterung der Kontrolle der NATO über eigene Streitkräfte einen Zentimeter [“Inch”] in Richtung Osten:

“We understand the need for assurances to the countries in the East. If we maintain a presence in a Germany that is a part of NATO, there would be no extension of NATO’s jurisdiction for forces of NATO one inch to the east” – James Baker

Klar ist, dieses Gespräch stellt keinen Vertrag dar. Dennoch scheint sein Inhalt für große deutsche Medien mit Beginn des Ukraine-Konfliktes brisant genug, um Mythen und Desinformation zu streuen. Exemplarisch dafür steht ein Artikel vom “Faktenfinder” der Tagesschau:

Quelle: Tagesschau

Die Tagesschau behauptet, Baker habe mit seiner Aussage das Gebiet der DDR gemeint und “an eine NATO-Mitgliedschaft von Staaten des 1990 noch bestehenden Warschauer Paktes” sei damals nicht zu denken gewesen. Dass sich die Aussage Bakers auf die DDR bezieht ist nach Studium der Protokolle des Gesprächs allerdings falsch: Die Rede ist in Plural von Ländern [“countries”] und nicht Bundesländern [“states”]. Und die DDR erwähnt Baker an dieser Stelle im Protokoll nicht einmal.

 

Europa zum Zeitpunkt vor der Wiedervereinigung (Quelle)

Auch im Kontext ist die Behauptung erkennbar falsch: Zum damaligen Zeitpunkt gehörte mit Polen ein zukünftiger Nachbar eines wiedervereinigten Deutschlands zum Warschauer Pakt. Im Fall, dass Deutschland der NATO beitreten würde, verliefe an der deutsch/polnischen Grenze auch die neue Grenze zwischen den beiden Militärbündnissen. Auch im Fall von Tschechien würde ein größerer Teil seiner Landesgrenze zur neuen Bündnisgrenze werden. Mit den “Ländern im Osten” bezeichnet Baker jene Länder des damaligen Warschauer Paktes, die im Fall eines NATO Beitritts des wiedervereinigten Deutschlands Sicherheitsgarantien für sich wünschen würden.

Diese Sicherheitsbedenken der Nachbarländer erwähnt Baker wenig später auch nochmals explizit als “externe Aspekte” einer Wiedervereinigung Deutschlands:

James Baker zu den Aspekten einer Wiedervereinigung (Quelle)

Daraus das Zitat:

“The internal aspects are for the two Germanies to determine. The external aspect has to be accomplished with due regard to Germany’s neighbors. Their security concerns will have to be taken into account and questions like the status of Berlin will have to be resolved.” – James Baker

Baker stellte sprachlich nicht auf die Mitgliedschaft eines Landes in der NATO ab, sondern auf die Kontrolle über NATO-Truppen. Insofern legt die Tagesschau mit der Aussage zur NATO-Mitgliedschaft eine falsche Fährte. Heute gibt es zwar Länder, die Mitglied der NATO sind und selbst kein eigenes Militär besitzen, aber im Allgemeinen wäre bei einer Mitgliedschaft in der NATO davon auszugehen, dass sie im Bündnisfall auch Kontrolle über die Truppen des Landes ausüben würde. Im Rahmen eines NATO Manövers wäre dies auch vorher schon der Fall. Insofern deckt die Aussage Bakers den Fall einer NATO-Mitgliedschaft indirekt mit ab.

Natürlich ist hier die Geschichte nicht zu Ende. M. E. Sarotte beschreibt in ihrem Buch “Not one inch: America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate” die weiteren Ereignisse nach Ende des kalten Krieges. Da es zwischen Russland und den USA noch viele weitere Gespräche und Vereinbarungen gab, ist die heutige Bedeutung der damaligen Aussage Bakers begrenzt und in ihrer Absolutheit nicht mehr zutreffend. Allerdings zeigt sich, dass sich diese Aussage in eine Reihe an Demütigungen und gebrochenen Zusagen einreiht, welche die weitere Geschichte zwischen Russland und den USA in Bezug auf die NATO-Osterweiterung prägen wird.