Eine neue Nordstream Story

Medien und sog. “Faktenchecker” arbeiteten bislang mit mäßigem Erfolg daran, die Verantwortung für die Sprengung der Nordstream-Pipelines von den USA wegzuschieben. Zu offensichtlich deuten die Anschläge in Richtung Washington. Auch teils groteske Versuche diesen Eindruck zu zerstreuen änderten wenig.

Am 3. März 2023 besuchte Kanzler Scholz überraschend das Weiße Haus in Washington. Es wurde kaum etwas über den Grund seiner Reise und die Inhalte des Treffens bekannt. Dies nährte Spekulationen darüber, was der Zweck des Treffens war. Auch in der türkischen Presse tauchte die Frage auf, wobei jedoch ein interessanter Aspekt aufgezeigt wurde: Nur wenige Tage nach dem Besuch wurde eine neue Story über die Sprengung der Nordstream-Pipelines zeitgleich in deutschen und amerikanischen Medien veröffentlicht. Unter Berufung auf US-Quellen veröffentlichte die New York Times einen Artikel, wonach eine pro-ukrainische Gruppe den Anschlag verübt habe. Sogar das genutzte Schiff sei bereits identifiziert: Ein Segelboot mit Dieselmotor. Diese Jacht sei von einer Firma mit Sitz in Polen angemietet worden. Auf dem Tisch sei Sprengstoff nachgewiesen worden. Deutsche Medien wie die Zeit veröffentlichten die Story zeitgleich, aber interessanterweise unter Berufung auf deutsche Quellen.

Ein Fall für “Wetten, dass…?”: 6 Personen, eine halbe Tonne Sprengstoff, professionelle Tauchausrüstung und medizinisches Equipment an Bord

Kurz zuvor erfreuten deutsche Medien ihre Leser noch mit einer anderen abenteuerlichen Geschichte: Das Gasleck an Nordstream 2 sei unbeabsichtigt aufgetreten, woraufhin Nordstream 1 dann gesprengt worden sei – natürlich von Russland. Die Story bekam den Charakter einer Diffamierungskampagne gegen Hersh.

Wollten Scholz und Biden mit der neuen Story das störende Thema Nordstream endlich vom Tisch bekommen?

“Wir waren das nicht!”

Hersh beschrieb in seinem Artikel vom 8. Februar 2023 die Einzelheiten der Sprengung der Nordstream Pipelines durch die USA. Nach dem Besuch von Scholz in Washington erklärte Hersh in einem Interview, die neue Story diene als Ablenkung und kranke schon daran, dass die ukrainische Marine gar nicht die notwendige Ausrüstung für die Durchführung des Anschlags besitze. In seinem Artikel schrieb Hersh, die CIA habe die neue Story gemeinsam mit deutschen Diensten zur Vertuschung der US-Beteiligung ausgearbeitet.

Die Durchführung mit Hilfe einer gewöhnlichen Sportjacht erscheint in der Tat wenig plausibel: Die Pipelines liegen in einer Tiefe von 70 bis 80 Metern. Dies ist unterhalb der Tiefe von 40 bis 50 Metern, die für Sporttaucher maximal erreichbar wäre. Bereits in 40 Meter Tauchtiefe kann ein sog. Tiefenrausch auftreten. Ab einer Tiefe von ca. 60 Metern wirkt Sauerstoff toxisch, was ohne spezielle Atemgemische zu einer Sauerstoffvergiftung führt. Für professionelle “technische Taucher” mit entsprechender Ausrüstung und Ausbildung wären die Pipelines in dieser Tiefe erreichbar, aber einer Sportjacht fehlt es an vielen Einrichtungen wie z.B. einer Dekompressionskammer – von Problemen wie Seegang, Strömung und Zuladung abgesehen. Die Behauptung, es sei in diesem Zusammenhang ein gefälschter ukrainischer Reisepass genutzt worden, sorgte in sozialen Medien für Spott und Gelächter.

Es wurde ein Reisepass gefunden

Die nächste “Wendung” vermeldeten Medien am 25. März 2023. Es waren wieder die Russen – aber dieses mal mit einem U-Boot mit Greifarm. Dies mutmaßte unter Berufung auf nicht näher bezeichnete “Sicherheitskreise” unter anderem T-Online. Die Meldung wurde wieder zeitgleich über die etablierten deutschen Medien gestreut.

War es ein russisches U-Boot mit Greifarm?

Die einfache Frage, warum Russland die eigene Pipeline hätte sprengen sollen, wenn Gazprom z.B. unter Verweis auf Nicht-Bezahlung in Rubel einfach den Gashahn hätte zudrehen können, wird auch mit der neuen Geschichte nicht sinnstiftend beantwortet. Das verbindende Element aller Geschichten aus den etablierten Medien bisher: Die USA waren nicht beteiligt und Deutschland ahnungslos.

Für die USA wäre die Sabotage einer Gas-Pipeline nichts Neues. Während des kalten Krieges gelang es der CIA im Jahr 1982 eine der wichtigsten russischen Pipelines zu zerstören. Manipulierte Technik ließ den Druck in der Pipeline derart ansteigen, dass diese schließlich in einer riesigen Explosion barst. Dies gelang, da die Kanäle aufgeflogen waren, über welche die Sowiets heimlich westliche Technik beschafften. Amerikanische Militärs hielten die Explosion zunächst für einen Waffentest. Die wahre Ursache gelangte 20 Jahre später an die Presse.

Am 27. März 2023 scheiterte eine Resolution des UN-Sicherheitsrats für eine unabhängige internationale Untersuchung des Anschlags auf die Pipelines. Diese kam auf Betreiben Russlands auf die Tagesordnung, das durch Gazprom der Besitzer von Nordstream 2 ist. Neben Russland votierten lediglich China und Brasilien für die Resolution. Bedingt durch 12 Enthaltungen wurde das notwendige Quorum von 9 Stimmen nicht erreicht.

Nordstream: Keine internationale Untersuchung (Quelle)

Der Vertreter der USA bestritt eine Beteiligung des eigenen Landes und warf Russland vor, gar nicht an Aufklärung interessiert zu sein, sondern die Untersuchung durch Schweden, Dänemark und Deutschland diskreditieren zu wollen. Der Vertreter Japans sagte, es solle erst das Ende dieser nationalen Untersuchung abgewartet werden. Der russische Vertreter erklärte, eine Einbeziehung Russlands sei von besagten Staaten abgelehnt worden und deren Untersuchung würde sich womöglich über Jahre hinziehen. Am Ende des Tages triumphierte die Presse: “UN-Sicherheitsrat lässt Moskau abblitzen” titelte beispielsweise NTV.

Seymour Hersh äußerte sich erstmals in freien deutschen Medien im Interview mit Marc Friedrich am 27. März. Die Washington Post veröffentliche am 3. April die Vermutung, wonach Polen beteiligt sein soll, was als mediales Ablenkungsmanöver kritisiert wurde.