Nordstream und die Faktenfinder

Manchmal sind Dinge so grotesk, dass man etwas dazu schreiben muss, auch wenn andere das schon getan haben. So gibt es Neuigkeiten aus der Welt der Faktenfinder im Fall der gesprengten Nordstream Pipelines. Hier belastet ein Artikel des Journalisten Seymour Hersh die USA und Norwegen schwer. Hersh veröffentlichte den Artikel am 8. Februar 2023. Dieser sogenannte “Hersh Bericht” wurde natürlich schnell zur Zielscheibe der “Faktenchecker”. Auch die “Faktenfinder der Tagesschau” lieferten ein Meisterwerk ab, welches das Potential besitzt, sogar noch den “stromerzeugenden Fernseher aus Simbabwe” zu übertrumpfen:

Sogar andere Geräte könne der magische Fernseher mit Strom versorgen, so der stolze Erfinder

Die “Faktenfinder der Tagesschau” scheiterten diesmal schon bei der korrekten Übersetzung des Berichts von Seymour Hersh aus dem Englischen. Aber der Reihe nach:

  • Im Englischen bezeichnet “shaped charge” eine Hohlladung. Dies ist eine spezielle Anordnung aus Sprengstoff und Metall (typischerweise Kupfer), welche bei der Explosion eine panzerbrechende Wirkung entfaltet. Panzerabwehrwaffen sind in der Regel um eine Hohlladung herum aufgebaut. Während Panzerabwehrwaffen eine punktförmige Wirkung besitzen, gibt es auch sogenannte Schneidladungen mit flächiger Wirkung. Diese arbeiten ebenfalls nach dem Prinzip der Hohlladung und werden beispielsweise gegen tragende Elemente von Brücken eingesetzt. Beides kann man mit “shaped charge” übersetzen.

    Aufbau einer Schneidladung (Quelle)
  • C4 ist ein militärisch nutzbarer Sprengstoff mit dem u.a. auch Hohlladungen konstruiert werden.
  • Mit dem Ausdruck “to plant a bomb” bezeichnet der Engländer das Legen einer Bombe. Als Substantiv steht “plant” allerdings auch für “Pflanze”. Und hier nahm das Unheil für die Faktenfinder seinen Lauf.

Hersh beschreibt in seinem Bericht mit dem Titel “How America took out the Nord Stream Pipeline” (Mirror) den Ablauf der Sprengung. Die Passage in der Hersh beschreibt, wie Taucher C4 Schneidladungen an der Pipeline angebracht hätten (“divers, who […] plant shaped C4 charges”), erregte offenbar das Misstrauen der Faktenfinder.

Auszug aus dem “Hersh Bericht” (Quelle)

C4 Sprengladungen (“C4 charges”) in Pflanzenform (“plant shaped”) – das klingt nämlich reichlich verdächtig. Und dann wäre dieser explosive Pflanzenbewuchs, quasi ein amerikanischer C4 Knallerbsenstrauch, auch noch unter Wasser. Diesen Verdacht erhärtet für die Faktenfinder der Lehrbeauftragte für Sprengtechnik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT): Sprengstoff in Pflanzenform, das sei “abenteuerlich”.

Sprengstoff in Pflanzenform: abenteuerlich, so Experten (Quelle)

Es bleibt unklar, ob sich Google Translate an diesem Satz verschluckte oder ob die mangelnde Kenntnis der englischen Sprache die “Faktenfinder” zu dieser Fehlübersetzung führte. Im Kontext ist sie jedenfalls falsch, da “plant” als Verb und nicht als Substantiv verwendet wird. Allerdings ist die Übersetzung auch inhaltlich ganz einfach offenkundiger Blödsinn. Umso erstaunlicher ist, dass diese für bare Münze genommen wurde.

Baumwurzeln und Seegras aus Sprengstoff werfen Fragen auf

Mit der C4 Knallerbsenstrauchtheorie im Gepäck konsultierten die “Faktenfinder der Tagesschau” besagten Experten für Sprengtechnik. Dieser schätzt, dass 300 bis 400 kg Sprengstoff nötig wären, gibt aber zu bedenken, dass “300-kg-Pflanzenbewuchs” entsprechend “Zeitvorlauf für das Wachstum” benötige. Auch die Art der Pflanzengestaltung werfe Fragen auf: So ließen sich dicke Baumwurzeln “zwar mit plastischem Sprengstoff modellieren”, aber spätestens bei der Nachbildung von filigranem Seegras aus C4 ergäben sich Herausforderungen.

Mit diesen aufgedeckten “Ungereimtheiten” konfrontierten die Faktenfinder natürlich auch Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh selbst, der lange vor seinem Artikel über Nordstream durch Berichte über US-Kriegsverbrechen in Vietnam und über das Foltergefängnis Abu-Ghuraib während des dritten Goldkriegs bekannt wurde. Auf ihre investigativen Nachfragen erhielten die Faktenfinder verdächtigerweise keine Antwort. Kamen statt explosivem Seegras also vielmehr russische Seelöwen aus Sprengstoff oder Putins C4 Thunfische zum Einsatz?

Auch bei anderen Gelegenheiten fielen die Faktenfinder eher durch Desinformation als Fakten auf. Offenbar war aber der neuste Streich selbst für das Publikum der Tagesschau eine Nummer zu viel. Jedenfalls sah man sich genötigt das explosive Seegras aus dem Artikel zu streichen. Nach der Steichung besteht der “Faktencheck” im Wesentlichen noch aus Versuchen Hersh eine russlandbezogene Position anzudichten und der Wiedergabe von Dementis der Protagonisten, die gemäß Hersh in die Nordstream-Sprengung involviert sind.

Der angebliche “Kampf gegen Gerüchte und Falschmeldungen” und die “Aufklärung gegen Fake-News” geht beim ARD-Faktenfinder natürlich weiter. Es wird also auch in Zukunft noch einiges zum Lachen geben.